Interview: Jean-Claude Biver über das neue Chronographenwerk von Zenith
Zenith bringt ein neues El Primero: Das verrät Jean-Claude Biver im Exklusiv-Interview mit Rüdiger Bucher. Der Chef der Uhrensparte des Luxusgüterkonzerns LVMH führt seit Anfang Januar 2017 auch die Manufaktur Zenith – zusätzlich zu seinen Funktionen als CEO von TAG Heuer und Chairman von Hublot. Im Gespräch verrät er seine nächsten Pläne: So präsentiert Zenith am 22. März auf der Baselworld das neue Chronographenwerk El Primero 21 mit Hundertstelsekunden-Stoppung.

Herr Biver, Sie haben Anfang Januar für eine Übergangszeit die Führung von Zenith persönlich übernommen. Als Grund nannten Sie, dass Ihnen die Unternehmenszahlen Sorgen bereiteten. Die reinen Zahlen sind nie das Wichtigste. Rote Zahlen als solche sind mir egal. Aber sie sind ein Ausdruck für tiefer liegende Probleme. Für mich ist es wichtig zu wissen, was die Gründe für schlechte Zahlen sind. Nur dann kann ich entsprechend handeln.
Zenith hat zuletzt 2015 und 2016 rote Zahlen geschrieben. Was sind die Gründe? Es gibt nicht den einen Grund, sondern eine Fülle von kleineren Ursachen. Ist es das Produkt? Gibt es zu viele Mitarbeiter? Müsste das Marketing besser sein? Keiner dieser Faktoren ist allein verantwortlich. Es gibt hier und da kleinere Schwächen, die sich addieren. Unterm Strich zeigte mir die gesamte Firma zu wenig Dynamik. Es ging nicht schnell genug voran. Und ich konnte nicht noch mehr Geduld aufbringen. Deswegen habe ich selbst die Leitung übernommen.
Mit Hublot und TAG Heuer waren Sie jeweils schnell erfolgreich. Kann man die Fälle mit Zenith vergleichen? Überhaupt nicht. TAG Heuer zum Beispiel verdiente, als ich 2014 an die Spitze des Unternehmens trat, im Gegensatz zu Zenith viel Geld. Die Umsatzrendite lag über 20 Prozent. Doch auch bei TAG Heuer haben mich die Zahlen nicht interessiert. Wenn ein Unternehmen Gewinn macht, heißt das noch nicht, dass alles absolut richtig läuft. Als ich zu TAG Heuer kam, wollte ich das Management-Konzept sehen. Ich wollte die Botschaft kennenlernen. Die Produktstrategie und die Preisstrategie, das Marketing und die Distributionspolitik. Ich wollte sehen, was in Forschung und Entwicklung passiert. Diese Analysen zeigten mir, wo die Schwächen lagen – und die haben wir später versucht zu beseitigen. Hätte ich nur auf die Zahlen geschaut, hätte ich fast nichts verändert. Und so, wie mich bei TAG Heuer die guten Zahlen nicht beruhigen konnten, mache ich mir bei Zenith angesichts der schlechten Zahlen keine riesigen Sorgen.

Warum sind die Zahlen bei Zenith so schlecht? Bei einer reinen Manufaktur wie Zenith geht das schnell. Manufaktur zu sein, ist eine Stärke, aber auch eine Schwäche. Denn man muss ein Minimum an Stückzahlen produzieren, um rentabel zu sein.
Zenith produzierte zuletzt nur noch etwa 20.000 Uhren im Jahr. Ja. Bei einer Manufaktur mit über 200 Mitarbeitern liegt die Rentabilitätsschwelle etwa bei 25.000 bis 30.000 Uhren pro Jahr. Wenn Sie diese Stückzahlen nicht erreichen, verlieren Sie unweigerlich Geld.
Was sind Ihre konkreten Pläne für Zenith? Zenith gehört zu einer Gruppe. Als Verantwortlicher der LVMH-Uhrenmarken TAG Heuer, Hublot und Zenith muss ich bestimmen, welchen Platz Zenith in dieser Gruppe einnimmt.
Fangen wir bei Hublot an: Die Marke ist am höchsten positioniert. Bei Hublot sprechen wir von „unerreichbarem und de-strukturiertem Luxus“. Preislich sind die Uhren für die meisten Konsumenten unerschwinglich. Und dazu vom Design her „disruptiv“, das heißt, wir brechen mit Konventionen. Hublot ist ein bisschen wie ein Ferrari, nicht so klassisch wie ein Bentley. TAG Heuer ist dagegen der Leader des erreichbaren Luxus in der Schweizer Uhrenindustrie. Darüber hinaus für Avantgarde und für „gefühlten Wert“ (perceived value): Eine TAG Heuer sieht oft teurer aus, als sie ist. Denken Sie nur an unseren Tourbillon-Chronographen: Er kostet 15.000 Euro, könnte aber das Doppelte kosten. Patek-Philippe-Chef Thierry Stern kritisierte mich, indem er sagte, die Uhr sei zu billig.

Wofür steht Zenith? Zenith steht für traditionelle Uhrmacherkunst zu erreichbaren Preisen. Also ebenfalls erreichbarer Luxus, aber mit einem klassischeren Ansatz als TAG Heuer und mit einem Preisniveau, das zwischen Hublot und TAG Heuer liegt. Es gibt Marken, die stehen ebenfalls für traditionelle Uhrmacherei, sind aber für die meisten Menschen unerschwinglich. Ich kenne niemanden, der nicht A. Lange & Söhne mag. Aber ich kenne viele, die sich diese Uhren nicht leisten können. Zenith ist also nicht die Alternative zu Lange, aber wir spielen in dieser Liga mit.
Sie sehen Zenith also dort, wo es immer war? Zenith war immer in dieser Preiskategorie. Und Zenith war immer eine Manufaktur. Mir geht es darum, die traditionelle Uhrmacherkunst zu beherrschen und gleichzeitig weiterzuentwickeln, sie zu modernisieren, ohne unerschwinglich zu werden.
Bis zu welchem Preis sprechen Sie von erschwinglich? Das hängt vom jeweiligen Produkt ab. Wenn ich eine ultraflache Uhr mit Manufakturwerk für 4.000 Euro anbiete, ist das erschwinglich. Denn man erwartet, dass so eine Uhr um die 9.000 Euro kostet. Geht es aber um eine Minutenrepetition, die 200.000 Euro kosten müsste, und ich bringe sie für 60.000 Euro, dann sind auch 60.000 Euro „erschwinglich“.
Ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis ist schön für den Kunden. Das allein reicht aber noch nicht aus, um eine Uhr wirklich begehrenswert zu machen. Von wo bezieht eine Zenith ihre Begehrlichkeit? Aus der Vergangenheit. Aus dem Prestige der Marke. Aus der Eleganz der Uhren. Ich trage diese Zenith (zeigt die neue, blaue Heritage 146 an seinem Handgelenk), weil mir ihre Größe und ihre Schlichtheit gefallen.

Dieses „less is more“ spricht mich an. Aber natürlich müssen wir auch gutes Marketing machen. Wenn wir Zenith so kommunizieren wie Hublot, dann erreichen wir unsere Kunden nicht. Wir müssen den Zenith-Kunden ansprechen.
Wie sieht der aus? Eine kultivierte Persönlichkeit, die etwas Besonderes haben möchte, dabei aber vernünftig mit dem Geld umgeht. Ein Mensch, der eine Uhr für 20.000 Euro zwar kaufen könnte, das aber grundsätzlich nicht tut, weil es nicht seiner Mentalität entspricht. Ich kenne eine Menge Leute, die durchaus vermögend sind, beim Kaufen aber nicht über eine bestimmte Schwelle hinausgehen.
Günstige Preise könnten Sie erreichen, indem Sie Fremdwerke von Eta oder Sellita einsetzten. Ist das eine Option? Nein, das schließe ich aus. Eine Zenith hat ein Manufakturwerk, Punkt.
Zenith hat sich nicht nur mit eigenen Werken einen Namen gemacht, sondern auch mit sehr präzisen Werken: Die Manufaktur hat in der Vergangenheit über 1.500 Chronometerwettbewebe gewonnen. Nehmen Sie das Thema wieder auf? Ja. Die Chronometrie gehört zu unserer Strategie.

Wollen Sie also mehr Werke bei der COSC zertifizieren lassen? Ja. Ich spiele auch mit dem Gedanken, Uhren zusätzlich vom Observatorium Besançon zertifizieren zu lassen. Besançon ist weltweit bekannt als Maßstab für Präzision, während die COSC nur im Uhrensektor eine Rolle spielt.
Das Thema Präzision ist allerdings noch nicht besonders sexy. Nein, aber es ist ein Beweis der Qualität. Obwohl wir für „accessible tradition“ stehen, streben wir in der Qualität das höchste Niveau an. Einen günstigen Preis kann man nur rechtfertigen, wenn auch die Qualität stimmt. Und ein Chronometerzeugnis hilft dabei, die Qualität zu beweisen.
Höchste Qualität, das betrifft zunächst einmal das Werk. Das betrifft ausschließlich das Werk. Die echte Qualität einer Uhr liegt in dem, was man nicht sieht!
Inwieweit betrifft das auch die Werkveredelung? Welches Niveau wollen Sie da erreichen? Ich will keine Revolution. Das El Primero ist seit 1969 das Maß aller Dinge für uns. Was nicht bedeutet, dass wir nicht in unseren Academy-Uhren auch exklusive Spezialitäten bringen, die im Einzelfall noch stärker veredelt sind. Ich will zwei Niveaus, wie in der Autoindustrie: Mercedes verkauft zwar vor allem Autos mit Sechs- und Achtzylinder-Motoren, aber sie haben auch einen Zwölfzylinder.

Braucht Zenith nicht auch eine richtige Sportuhr? Ich denke, ja. Das Leben der Menschen geht immer mehr in Richtung Freizeit und Sport. Wir haben die Modellreihe Pilot: Das sind Fliegeruhren, Instrumentenuhren, aber das sind für mich noch keine 100 Prozent richtigen Sportuhren. Eine richtige Sportuhr, mit der man auch Sport treiben könnte, werden wir in die Kollektion 2019/20 gut integrieren.
Denken Sie an eine Taucheruhr? Ich habe mich noch nicht ausreichend mit dem Thema beschäftigt. Wir sind ja Spezialisten für Chronographen. Und eine Taucheruhr mit Chronograph macht wenig Sinn. Außerdem ist eine Taucheruhr für einen ganz bestimmten, eng definierten Sport gemacht. Ich sehe für uns eher eine sportliche Luxusuhr à la Royal Oak, Nautilus oder Classic Fusion. Eine Sportuhr, die man auch zum Anzug tragen kann. Aber falls wir erkennen, dass wir eine Sportuhr brauchen, wird sie nicht schon nächstes Jahr kommen, sondern eher übernächstes Jahr.
Zenith steht vor allem für das bekannte, 1969 eingeführte Chronographenwerk El Primero mit Automatikaufzug. Jetzt bringen Sie ein neues Chronographenkaliber. Das El Primero von 1969 ist zu Recht bekannt und hoch geschätzt. Es ist ein schönes und faszinierendes Werk, weil man alle Chronographenfunktionen durch den Glasboden beobachten kann. Und es ist sehr zuverlässig. Es bereitet uns keinerlei Probleme. Ein weiterer Vorteil ist sein kleiner Durchmesser, denn die Uhren werden tendenziell wieder etwas kleiner. Trotzdem wollen wir zeigen, dass wir auch ein El Primero fürs 21. Jahrhundert machen können. Daher stellen wir jetzt das El Primero 21 vor. Das ist ein Chronographenwerk, mit dem man auf eine Hundertstelsekunde genau stoppen kann.
Wie sieht die Konstruktion aus? Es gibt zwei Hemmungen, also auch zwei Unruhen. Eine mit den klassischen, für Zenith typischen 36.000 Halbschwingungen pro Stunde für die Zeitmessung, die andere mit 360.000 Halbschwingungen für den Chronographen. Es soll in ein spezielles, eigenes Gehäuse kommen, sodass es sich innerhalb der Kollektion vom El Primero unterscheidet. Die Linie wird „Defy“ heißen.

„Defy“ ist ein Name mit Tradition bei Zenith. Defy heißt Herausforderung. Denn mit diesem Werk stellen wir uns selbst eine Menge Aufgaben – neben der Messung von Hundertstelsekunden sind das ein extrem hoher Magnetfeldschutz und eine hohe Temperaturresistenz. Das Werk soll bei extremer Kälte genauso funktionieren wie bei 50 Grad Hitze, und zwar ohne größere Gangabweichungen.
Wie hoch wird der Magnetfeldschutz ausfallen? Unser Ziel ist, dass sich das Werk praktisch nicht magnetisieren lässt. Wir benutzen dazu Werkstoffe wie Silizium, eine Nanotube-Spiralfeder aus Karbon und weitere innovative Materialien. Ich sage nicht, dass wir all diese Ziele erreichen. Aber das ist unsere Herausforderung. Wir arbeiten daran, sie zu bewältigen.
Wann soll das Werk auf den Markt kommen? Ich hoffe, gegen Ende 2017.
Wie viel Stück wollen Sie jährlich produzieren? Etwa 2.000 bis 3.000.
Mit diesem Kaliber wollen Sie also zeigen, was Zenith kann. Ja, auch. Wir haben bei Zenith nicht die finanziellen Möglichkeiten, mit teuren Markenbotschaftern zu arbeiten. Bei uns muss das Produkt für sich sprechen. Aber zurück zum Chronographenwerk: Mit dem El Primero, das Zehntelsekunden misst, haben wir den Chronographen für das 20. Jahrhundert, und das El Primero 21, das Hundertstelsekunden misst, ist der Chronograph für das 21. Jahrhundert.
Was wird die Uhr kosten? Ich weiß es noch nicht genau. Wahrscheinlich um die 12.000 Euro. Auch hier soll der Preis geringer ausfallen, als man es für so eine Uhr erwarten würde.
Guy Sémon, der Generaldirektor von TAG Heuer, hat vor einigen Jahren bereits für TAG Heuer einen Chronographen mit Hundertstelsekundenstoppung entwickelt. War er auch am neuen Zenith-Werk beteiligt? Ja. Ich habe außerdem verschiedene Techniker und Designer von Zenith, TAG Heuer und Hublot zu einer Art Task Force versammelt. Wir haben die besten Leute unserer Marken im Team gehabt.

Wie sah Ihr Briefing aus? Ich wollte eine Verbindung aus 20. und 21. Jahrhundert. Daraus entstand die Idee, das El Primero mit seinen 36.000 Halbschwingungen als Basis zu nehmen und beim Einschalten des Chronographen auf 360.000 zu wechseln. Zwischen Juni und November fanden dann regelmäßige Treffen zwischen Guy Sémon, Konstrukteuren von Zenith und Designern statt. Auch Christoph Behling, der Designchef von TAG Heuer, war mit im Boot. Seit Dezember wird direkt bei Zenith am Werk gearbeitet. Das war jetzt das erste Mal innerhalb meiner Division, dass wir Synergien aus unseren verschiedenen Kompetenzen genutzt haben. Eines Tages, wenn sich alles entwickelt hat, wird Zenith weniger Synergien brauchen.
Sie haben die Marke TAG Heuer verjüngt, sprechen jüngere Menschen an. Braucht Zenith das auch? Ja. Jede Marke muss verjüngt werden. Aber bei Zenith hat sie ein anderes Niveau als bei TAG Heuer. Ein 60-jähriger Banker heute trägt andere Kleidung als ein 60-jähriger Banker 1950. Der neue Chronograph mit El Primero 21 spricht mit seinem Design bereits jüngere Leute an, die heute noch nicht an Zenith denken. buc