Leserreise Schweiz 2015
Einfach an den Pforten der Schweizer Uhrenmanufakturen klopfen und eintreten, das geht als normaler Kunde nicht. Für die UHREN-MAGAZIN-Leserreise Schweiz 2015 machen Piaget, Audemars Piguet, Jaeger-LeCoultre und Patek Philippe aber eine Ausnahme und gewähren Einblicke in ihre Fertigungsstätten.
![]() |
![]() |
Unter blauem Himmel und bei strahlendem Sonnenschein startet die Leserreise bei Piaget im beschaulichen Örtchen La Côte-aux-Fées, wo die Firma 1874 als Werkehersteller und -lieferant begann. Erst in den 1940er-Jahren begann man, vor allem Damenuhren unter eigenem Namen zu fertigen. Daraus entwickelte sich schnell der Bedarf nach flachen Werken. Heute hat sich Piaget auf die Tradition zurückbesonnen und besitzt unter anderem das aktuell flachste automatische Chronographenwerk der Welt. Mit der Erweiterung der Produktion Mitte des 20. Jahrhunderts zog man vom Gründungshaus in La Côte-aux-Fées in ein größeres Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In diesem befindet sich mittlerweile ein Teil der Werkeherstellung, die wir besichtigen dürfen. Schmale Treppenhäuser und kleine Fenster lassen das Alter des Hauses erahnen. Drinnen stehen wir jedoch in einer modernen Manufaktur.
Gemeinsam mit Deutschlandchef Michael Klefoth führt uns Balthasar de Pury, Verantwortlicher für die Kommunikation bei Piaget, durch die Räumlichkeiten. Rund 25 000 Uhrwerke werden hier im Jahr von 120 Mitarbeitern, darunter 30 Uhrmachern, finissiert und montiert. Große Komplikationen – das sind bei Piaget Tourbillons, Minutenrepetitionen, Ewige Kalender, aber auch sämtliche skelettierten Werke – werden hier auch eingeschalt. Das erfolgt bei Standarduhren im zweiten Standort in Plan-les-Ouates bei Genf, wo sich die Gehäuse- und Armbandfertigung von Piaget befindet.
Piaget – der Spezialist für besonders flache Werke

Während wir den freundlichen Angestellten über die Schultern schauen, erzählt uns Balthasar de Pury, dass je nachdem, ob es sich um ein Standardwerk, eine Kleinstserie oder ein kompliziertes Kaliber handelt, die Dekorationen mit Hilfe von Maschinen, kleinem Elektrowerkzeug oder vollständig von Hand ausgeführt werden. Bei einer Minutenrepetition brauche ein Mitarbeiter bis zu zwölf Stunden für das Anglieren von nur einem Werkteil, erklärt de Pury. Noch aufwändiger sind die Finissierung und Montage von besonders flachen Werken. Deshalb geht es weiter in den Raum, in dem das Kaliber 900P zusammengesetzt wird. Es ist das derzeit flachste Automatikwerk der Welt. »Bei so flachen Werken gibt es praktisch keine Toleranzen«, betont Michael Klefoth. Das erklärt auch den scheinbar hohen Ausschuss trotz der vielfachen Qualitätskontrollen. Natürlich bekommen wir bei Piaget auch fertige Uhren zu sehen, und zwar besonders hochwertige. Auf dem Tisch vor uns liegen fünf Uhren im Gesamtwert von über neun Millionen Euro. Nach einem kurzen Abstecher in die Restaurationsabteilung lädt uns Piaget zum Mittagessen ein. »Ich hatte Piaget gar nicht so recht als Uhrenhersteller im Blick«, gibt ein Teilnehmer zu, »aber jetzt bin ich von der Fertigungstiefe wirklich beeindruckt.«

Eine kurze Verschnaufspause erhalten wir auf dem malerischen Weg ins Vallée de Joux, wo uns Audemars Piguet erwartet. Christoph Guhl, Verantwortlicher für die technische Dokumentation bei Audemars Piguet, empfängt uns vor dem Hôtel de Horlogers, wo wir die nächsten zwei Nächte verbringen. Es liegt in direkter Nachbarschaft zum Gründungshaus der Manufaktur. Audemars Piguet ist heute die älteste Uhrenmanufaktur, die noch immer von einer der Gründungsfamilien geführt wird. Highlights der Firmengeschichte zeigt uns Christoph Guhl in dem kleinen, firmeneigenen Museum. Besonders der wandgroße Stammbaum beeindruckt viele unserer Mitreisenden.
Nachdem wir unter anderem den kleinsten Ewigen Kalender mit Zentralrotor aus den 1980er-Jahren (mit einem Durchmesser von 26 Millimetern damals ein Weltrekord) betrachten durften, erzählt uns Christoph Guhl, wie die Ikone des Hauses, die Royal Oak, entstanden ist und welche Entwicklung sie seither genommen hat. Der Höhepunkt unseres Besuchs erwartet uns direkt unterm Dach: das Restaurationsatelier. »Wir können alle Werke und Uhren seit dem Gründungsjahr 1875 restaurieren«, versichert uns Guhl. Dabei hilft den Uhrmachern ein Buch, in dem fortwährend Gehäuse- und Werknummern dokumentiert werden. Anhand dieser Daten sucht der Uhrmacher die richtigen Ersatzteile, die sogenannten Furnituren, heraus.
Audemars Piguet erschuf mit der Royal Oak eine Uhrenikone
Diese werden in bunten Schachteln in einem Tresor aufbewahrt. Ein vernehmliches Raunen geht beim Öffnen dieser Schatzkammer durch den Raum. Guhl erzählt, dass nach diesen Vorlagen Ersatzteile für alte Uhren wieder angefertigt werden, wofür die gleichen Werkzeuge zum Einsatz kommen, wie sie die Uhrmacher früher verwendeten. Dann geht es auch schon weiter zur Zifferblattherstellung, wo auf sogenannten Pantografen die legendären Royal-Oak-Zifferblätter entstehen. Um das einzigartige Waffelmuster auf einen Zifferblattrohling zu sticheln, brauchen die Maschinen jeweils eine Stunde. Danach folgen noch viele weitere Arbeitsgänge, wie Polieren, Galvanisieren, Lackieren und Bedrucken. Ein paar Teilnehmer besitzen eine Royal Oak und versichern den anderen beim Verlassen der Manufaktur, dass sie ihre Uhr nun mit ganz anderen Augen sehen.
Dass das Vallée de Joux ein zentraler Standort der Uhrenbranche ist, stellen wir spätestens am nächsten Morgen fest: Es herrscht reger Verkehr auf den schmalen Straßen. Kein Wunder, denn etwa 4 500 Menschen kommen jeden Tag ins Tal zur Arbeit. Einige fahren wie wir nach Le Sentier zu Jaeger-LeCoultre. Zur Straßenseite hin verbirgt eine große Glasfront, dass sich die Manufaktur zum Teil immer noch in den historischen Gründungsbauten befindet. Etwa 1300 Mitarbeiter, davon sind 200 Uhrmacher, gehen hier täglich ihrer Arbeit nach. Bernhard Martin, Marketing Manager für Deutschland, Österreich und die Schweiz, führt uns gemeinsam mit seiner Kollegin Magda durch die hochmoderne Fertigungsstätte. 1 250 Uhrwerke wurden hier bereits entwickelt, die kompliziertesten davon bauen 40 Uhrmacher im sogenannten Spezialitäten-Workshop zusammen. Dort angekommen, erklärt uns Abteilungsleiter Christian Laurent mithilfe eines Bildschirms und eines Mikroskops die interessantesten Komplikationen aus der Duomètre-Kollektion.
Anschließend werden die Uhren zur Ansicht durch die Stuhlreihen gereicht. Ehrfürchtig bestaunen die Teilnehmer die Zeitmesser, legen sie vorsichtig ans Handgelenk und machen Fotos. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal so wertvolle und komplizierte Uhren in der Hand zu halten«, lächelt ein Mitreisender. Wo die Teile dieser Zeitmesser hergestellt und bearbeitet werden, können wir anschließend beim Besuch der Komponentenwerkstätten sehen. Abschließend lädt uns Jaeger-LeCoultre zum Mittagessen am idyllischen Lac de Joux ein. Diese Stärkung können wir gut gebrauchen, denn am Nachmittag geht es zur sogenannten Master Class. Bei dieser Fingerübung testen wir unser uhrmacherisches Können.
Jaeger-LeCoultre macht aus Lesern Uhrmacherlehrlinge

Unter Anleitung eines Uhrmachers, der sonst im Spezialitäten-Workshop Tourbillons und Ewige Kalender montiert, bauen wir die Aufzugs- und Hemmungsbaugruppe aus dem Kaliber 986 aus und wieder ein. So mancher Teilnehmer kniet schon bald auf dem Boden und sucht seine Aufzugsfeder oder eine winzig kleine Schraube. Wie gut, dass Ersatzteile bereitstehen. »Und das machen die Uhrmacher den ganzen Tag? Ich hätte die Geduld nicht dafür,« sagt ein Teilnehmer am Schluss.

Wieder gibt es viel Gesprächsstoff beim Abendessen, das wir dieses Mal in einem abgelegenen Chalet einnehmen. Mit verladenen Koffern verlässt unser Bus am letzten Tag der Leserreise das Vallée de Joux über den Weg über den knapp 1500 Meter hohen Marchairuz. Diese beschwerliche Strecke nahmen vor vielen Jahrzehnten auch die Uhrmacher, die aus dem Tal nach Genf und zurück wollten. Das Wetter ist wieder strahlend schön und so werden wir mit einem fantastischen Panorama belohnt; in der Ferne ist sogar der Mont Blanc zu sehen. Unser Ziel liegt in Plan-les-Ouates, dem Vorot von Genf, wo uns Patek Philippe seine Türen öffnet. Etwa 58 000 Uhren und rund zehn Millionen Werkteile werden hier jedes Jahr fertiggestellt. Welche Sorgfalt und Detailliebe Patek Philippe dabei anwendet, zeigt Monsieur Jaquet in der Kleinteileherstellung.
Patek Philippe – eine Manufaktur mit viel Liebe zum Detail

Bis zu 120 Arbeitsschritte durchläuft ein Trieb bis zur Fertigstellung. Das beginnt mit dem Pressen und Brechen der Flanken, dem Polieren der Laufflächen und dem Abschrägen der Triebe und endet mit dem Abrunden der Achsen. »Unglaublich, dass das alles auch in meiner Uhr steckt,« staunt ein Teilnehmer anerkennend beim Blick auf seine Patek-Uhr am Handgelenk. Diese Fürsorge und Sorgfalt wendet die Manufaktur auch bei der Restauration alter Modelle an. Diese landen im Kundenservice, den wir als nächstes besuchen. Dass es für die Restauration spezielle Uhrmacher braucht, erfahren wir im Gespräch mit Monsieur Pernet. Er ist für die Rekonstruktion und Restauration von Trieben zuständig – und weiß allein nach Gehör, wann er mit einem Werkteil fertig ist.

Vor dem Mittagessen bleibt noch Zeit für einen Abstecher in die Haute Horlogerie, wo die »komplizierten Uhren, die nicht für die normale Kollektion gedacht sind«, montiert werden, erzählt Jaquet. Hier dürfen wir auch jüngst fertiggestellte Zeitmesser ansehen. Darunter die Grandmaster Chime und das Sky Moon Tourbillon, die zusammen mehrere Millionen Euro wert sind. Von diesen Stücken trennen wir uns nur schweren Herzens, aber es wartet ja noch ein besonderes Highlight zum Abschluss der Reise auf uns. Es geht hinein in die Stadt Genf zum Patek-Philippe-Museum. Hier befindet sich die auch öffentlich zugängliche Privatsammlung der Inhaberfamilie Stern, die aber, anders als der Museumname vermuten lässt, nicht ausschließlich Patek-Uhren beinhaltet. Tatsächlich handelt es sich um das größte Uhrenmuseum weltweit mit Einzelstücken aus 500 Jahren europäischer Uhrengeschichte. Frau Margaret Guilda, die uns sachkundig durch das Museum führt, weist mehrfach daraufhin, dass alle Uhren noch funktionstüchtig sind. Ihre Faszination und Begeisterung für das Museum springt auf uns über und ein Teilnehmer vergleicht das Museum mit einer Schatzkammer. Unser zweistündiger Aufenthalt ist leider viel zu kurz, um alle Uhren ausgiebig zu betrachten. Dann heißt es schon wieder Abschied nehmen.
Vier Manufakturen haben uns in drei Tagen herzlich empfangen, ihre Werkstätten gezeigt und all unsere Fragen beantwortet. So reisen die insgesamt 13 Teilnehmer der Leserreise zwar mit Wehmut, aber auch mit einem Koffer voller neuer Eindrücke nach Hause. Für so manchen steht fest: »Ich komme wieder!«
Text: Melissa Gößling
Sie wollen auch mit dem UHREN-MAGAZIN hinter die verschlossenen Türen Schweizer Marken blicken?