Der Uhrenroman des Jahres: “Willkommen in Lake Success” von Gary Shteyngart

Eine Wonne für alle, die Uhren lieben

„Willkommen in Lake Success“, der neue Roman des Amerikaners Gary Shteyngart, ist eine Freude für alle Uhrenliebhaber. Und im übrigen nicht nur für die. Barry Cohen will weg aus seinem Leben. Er verlässt seine junge Frau, den autistischen Sohn, das New Yorker Luxusappartement und seinen noch milliardenschweren, aber schwächelnden Hedgefonds, um mit dem Greyhound-Bus durch die amerikanische Provinz zu fahren. Mit dabei hat er einzig einen Rollkoffer mit sechs Uhren – die Automatikmodelle unter ihnen gut aufgehoben in Uhrenbewegern – und das, was er am Leib trägt; darunter die Nomos Minimatik an seinem Handgelenk. Noch bevor Barry den Greyhound besteigt, erfahren wir einiges über die Emotionen, die er für Uhren hegt: „Barry konnte normalerweise zu keiner Reise aufbrechen, ohne nicht mindestens drei Uhren als Begleitung einzupacken, denn jede einzelne war ein alter und seltener Freund, aber um diese Reise zu Ende zu bringen, brauchte er mindestens ein halbes Dutzend von ihnen.“ Die Nomos Minimatik gehört zu seinen neueren Errungenschaften. „Sie beruhigte ihn. Das champagnerfarbene Zifferblatt, die freien Flächen zwischen den arabischen Ziffern und vor allem der schmale orangefarbene Sekundenzeiger – eigentlich wie eine Kinderhand –, der elegant in seinem kleinen Hilfszifferblatt kreiste, als wäre das Leben leicht und strahlend.“

Der große Uhrenroman 2019: Gary Shteyngart, Willkommen in Lake Success
Der große Uhrenroman 2019: Gary Shteyngart, Willkommen in Lake Success

Leider muss Barry die Busfahrt ohne passende Reiselektüre antreten. Am Kiosk der Greyhound-Station fragt er zunächst nach der Zeitschrift WatchTime (die Schwesterzeitschrift von Chronos in den USA), dann nach dem Watch Journal, aber vergeblich. Weshalb er umso mehr Muße hat, sich seinen Reisegefährten, den wechselnden Stadt- und Naturlandschaften sowie den Begegnungen an den Orten seiner gelegentlichen Reiseunterbrechungen zu widmen.

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Die erstaunen und elektrisieren ihn. Es ist lange her, dass Barry, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt und sich als Student für Dinge wie Schwimmen und Creative Writing begeisterte, irgendetwas anders gesehen hat als die New Yorker Luxusblase, in der er lebt – und die der Autor mit wunderbarer Lakonie und Ironie schildert. Jetzt aber, im Greyhound, fühlt sich der 43-jährige Barry wie in Jack Kerouacs Hippie-Kultroman „Unterwegs“; er schwelgt in dem Gefühl, das echte Amerika zu entdecken.
Barry zählt es zu seinen unglaublichen Erlebnissen, dass ein einäugiger Mexikaner im Bus an seiner Schulter einschläft. Er lernt einen kleinen Drogendealer kennen, der ihn zu hehren Träumen animiert: Barry könnte den jungen Mann fördern, er würde eine Stiftung gründen, den Urban Watch Fund, der benachteiligten Jugendlichen dazu verhelfen würde, ein respektables Leben im Uhrenbusiness zu führen. „Es würde teuer werden, Hunderte Kinder mit echten Rolex Oyster Perpetuals auszustatten, dem günstigsten Modell, aber wie hatte so ein Typ auf einem Werbeplakat in Baltimore gesagt? ‚Ohne Kampf keinen Fortschritt.‘ Die Jugendlichen würden die Lebensgeschichte von Hans Wilsdorf und Alfred Davis lernen müssen, den beiden eleganten Herren, die in London das Unternehmen Rolex gegründet hatten. Es würde Reisen zur Baselworld geben, der großen Messe der Uhrenindustrie, und Besuche im Patek Philippe Museum in Genf.“
Dass ein solcher Roman eine Wonne für alle ist, die Uhren lieben, steht außer Frage. Er ist aber auch darüber hinaus ein lesenswertes Stück amerikanischer Gegenwartsliteratur, was ihm die internationale Kritik vielfach bescheinigt hat.
Gary Shteyngart schreibt einen Roman mit satirischem Unterton, der leichthändig, humorvoll und intelligent vom augenblicklichen Zustand der amerikanischen Gesellschaft erzählt. Die Story von Barry Cohens Reise spielt während des Wahlkampfs und der anschließenden Wahl von Trump, und sein Trip führt den uhrenverliebten Millionär nicht nur durch diverse geographische Regionen der USA, sondern bringt ihn auch in Berührung mit den unterschiedlichsten sozialen Welten. Gary Shteyngart schildert den gewissenlosen Luxus der Hochfinanz ebenso wie intellektuelle Milieus und die Situation von Migranten an der mexikanischen Grenze. Er wirft seinen Blick in den Alltag sozial Benachteiligter und in den Lifestyle-Kosmos der Hipster. Beim Lesen verliert man nie das Vergnügen, gleichzeitig bringt Shteyngart komplexe Verhältnisse auf den Punkt.
Barry Cohen, klassisches Opfer einer Midlife-Crisis, ist letztlich auf der Suche nach den menschlichen Faktoren, die sein Leben bestimmen sollen. Sein Gefühlsleben oszilliert zwischen seiner Frau, seinem Sohn, seiner früheren College-Geliebten, einer sentimentalen Liebe zur Herzlichkeit der vom Leben Gebeutelten, denen er auf seiner Reise begegnet – und den Uhren. Das klingt ironisch, und Barrys extreme Uhrenleidenschaft wird von Shteyngart denn auch mit subtilem Witz thematisiert. Aber auch mit einer intensiven Sensibilität für die Bedeutung, die eine Uhr für ihren Liebhaber besitzen kann: als mechanisches Ding, das zwar unbelebt ist, aber Geschichten von vielen Menschen in sich birgt. mbe

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