In der Sichtbeton-Höhle der Uhrengeschichte
Das Internationale Uhrenmuseum La Chaux-de-Fonds
Ein Höhleneingang, denkt man sofort, wenn man vor dem Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds steht. Eine niedrige Glasfassade öffnet sich unter einem Betonblock, der von Büschen und Bäumen eingewachsen über dem Vorplatz hängt. Im Inneren herrscht Dämmerdunkel, eine Brücke führt über offene Räume hinweg in einen Saal, den eine Galerie umgibt. Von oben dringt am gegenüberliegenden Ende des Raumes etwas Tageslicht herein. Zwischen Betonbögen hängen Kugeln von der Decke, in denen die Exponate eingeschlossen und von allen Seiten zu betrachten sind. 6.000 Uhren umfasst die Sammlung des Internationalen Uhrenmuseums in La Chaux-de-Fonds, 3.000 von ihnen sind ständig in seiner Ausstellung zu sehen.

„Die unterirdische Anlage hat zwei ganz praktische Vorteile”, erklärt Museumsführer Wolfgang F. Carrier. „Zum einen bleibt der Park über uns ungestört, und zum anderen hilft sie, eine Raumtemperatur von 19 Grad Celsius zu halten, die sich als schonend für die Exponate erwiesen hat.” 1972 bis 1974 wurde das Internationale Uhrenmuseum nach den Plänen von Pierre Zoelly und Georges-J. Haefeli in die natürliche Neigung des Geländes zwischen Rue des Musées und Rue de la Tranchée eingefügt, 1978 für seine technischen und künstlerischen Qualitäten mit dem Prix Cembureau für Betonbauten ausgezeichnet.

Doch das Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds ist nicht ganz so jung, wie man angesichts der Baudaten meinen möchte. Vielmehr steht es in einer langen Tradition: 1865 wurde die erste Uhrmacherschule des Ortes gegründet, und sie legte eine Sammlung an Musterstücken und Werkzeugen an. Im Jahr 1902 dann feierte La Chaux-de-Fonds die Eröffnung des ersten Uhrenmuseums. Denn die Uhrmacherei gehört zu dem Städtchen im Schweizer Jura, seit nach der Reformation Hugenotten aus Frankreich hier Zuflucht fanden – sie brachten das Handwerk einst mit sich.
Tradition in Sichtbeton
Dass La Chaux-de-Fonds mit dem nur wenige Kilometer entfernten Le Locle zum Uhrmacherzentrum wird, verdankt es mehreren günstigen Umständen. Den Grundstein legte die Natur mit den langen und schneereichen Wintern des Juras. Dann waren die Bewohner, ursprünglich vor allem Bauernfamilien, an ihre Häuser gebunden und hatten Zeit für handwerkliche Tätigkeiten aller Art. Es traf sich gut, dass das Jura – anders als die Städte Genf und Zürich etwa – eine zunftfreie Zone war. Hier konnte jeder das Handwerk seines Wunsches ausüben, ohne einer Zunft angehören zu müssen. Da war es nur logisch, dass ein Verlagssystem entstand: Organisiert von Daniel JeanRichard (1665-1741) und anderen, begannen die Bauern, im Winter Uhrwerksteile zu produzieren, die spezialisierte Werkstätten dann zu Uhrwerken zusammenbauten.

So entwickelte sich die Gegend zu einem Standort für die günstige Herstellung von Uhrwerken und Uhren. Dies zeigen etwa zwei Beispiele aus La Chaux-de-Fonds, die zur Sammlung des Internationalen Uhrenmuseums gehören. Die Tischpendeluhren scheinen in Gehäuse mit kunstvollen Intarsien und Bronzeverzierungen gehüllt zu sein. Tatsächlich bestehen die Stücke von Josué Robert (um 1730) und von den Gebrüdern Huguenin (um 1740) aus Holz, das geschnitzt, bemalt und allenfalls mit Messing beschlagen ist.
Wie sich die Uhrenindustrie in La Chaux-de-Fonds entwickelte
Man begnügte sich jedoch nicht mit dem Fertigen von Standardteilen – die Saisonkräfte spezialisierten sich und entwickelten eigene Mechanismen für immer kompliziertere Uhren. So besitzt das Museum eine Standuhr von Samuel Roi & Fils, die um 1780 gebaut wird. Sie zeigt die Zeit auf einer schneckenförmigen Skala und mittels eines Zeigers an, der sich dank seiner Scherenform passend zur Spiralanzeige verlängert. Das Werk ist so konstruiert, dass es nur ein Zahnrad benötigt.

Mit ein wenig – verständlichem – Stolz geht Museumsführer Carrier zu der Vitrine, die Abraham-Louis Breguet (1747-1823) gewidmet ist. Breguet stammte zwar nicht aus La Chaux-de-Fonds, sondern aus dem etwa 20 Kilometer entfernten Neuchâtel am Fuß des Jurabogens. Doch ein Genie wie er muss natürlich im Uhrenmuseum vertreten sein, schließlich beschreibt die Ausstellung mit ihren etwa 3.000 Exponaten die Geschichte der Uhrmacherei weltweit und von den Elementaruhren der Antike bis hin zu Industrieerzeugnissen der Moderne. Dazu gehört natürlich die Erinnerung an Breguet, der Innovationen hinterlassen hat wie den automatischen Aufzug durch eine Schwungmasse, eine stoßgesicherte Unruh und eine eigene Form der Spiralfeder. Neben der sogenannten Ewigen Uhr mit Datum und Mondphasenanzeige im guillochierten Goldgehäuse zeigt Carrier auch gerne die Subskriptionsuhr Nummer 3492, denn mit ihr verbindet sich eine besondere Geschichte: „Nach der Französischen Revolution konnte Breguet es sich nur noch leisten, Uhren nach Vorbestellung zu fertigen”, berichtet er. Immerhin schafft Breguet es, damit eine Serienfertigung aufzubauen. Das Exemplar in der Ausstellung verzichtet auf jede Form von Schnörkeln, zeigt die Zeit mit nur einem Zeiger und in Fünfminutenschritten an und offenbart unter dem Bodendeckel ein symmetrisch aufgebautes Uhrwerk.

Doch nicht nur in Paris geht die Geschichte weiter. La Chaux-de-Fonds erlebte zunächst eine Katastrophe, wurde bei einem Brand 1794 zum großen Teil zerstört. Aber der folgende Neuaufbau bot auch eine Chance: Er orientierte sich am Brandschutz und an der Gesundheit der Einwohner. Gleichzeitig passte sich der Ort stärker an die Bedürfnisse der Uhrmacher an – rechtwinklig angeordnete Straßen und viel Abstand zwischen den Häusern halfen ihnen, das Tageslicht auszunutzen. Nach diesem Schachbrett-Plan entwickelte sich La Chaux-de-Fonds später weiter, und noch heute zeigt das Stadtbild ihn deutlich.
„Ein wichtiges Geschäftsfeld für die Uhrmacher hier wurden dann die Chronometer”, erzählt Wolfgang F. Carrier. Das Uhrenmuseum besitzt neben einem Marinechronometer von Ferdinand Berthoud, Paris, auch eine Chronometer-Taschenuhr von Louis-Urban Jürgensen (1806-1867). Sein Vater gründet mit ihm und seinem Bruder Jules-Frederik das Unternehmen Urban Jürgensen & Sønner mit Sitz in Kopenhagen und Le Locle. Die Chronometer-Taschenuhr verfügt nicht nur über eine Temperaturanzeige und ein Tourbillon, die Gestaltung des Uhrwerks mit Dreiviertelplatine und kugelförmiger Spiralfeder erinnert auch an die Werke eines gewissen Jacques-Frédéric Houriet (1743–1830), der einst bei Berthoud in Paris arbeitet und den mit Breguet eine Freundschaft verbindet. Houriet ist der Großvater von Louis-Urban Jürgensen. Die Tradition der Chronometer hält etwa Ulysse Nardin aufrecht, das Unternehmen wird 1846 in Le Locle gegründet und spezialisiert sich bald auf die Präzisionsuhren. Sein Inhaber, Ulysse Nardin, kauft als Referenzuhr für die Produkte seines Ateliers einen astronomischen Regulator – der wiederum von Jacques-Frédéric Houriet stammt.

Doch zurück in das Uhrenmuseum. Die Reihe komplizierter Taschenuhren führt – wörtlich – ein Stück von Ami LeCoultre und Louis-Elisée Piguet fort, das als das Meisterwerk unter den Kunstuhren der Sammlung gilt. Die Uhr mit 17 verschiedenen Anzeigen entstand in einer vier Jahre dauernden Arbeitszeit in Le Brassus. Der Ort liegt zwar rund 100 Kilometer südlich von La Chaux-de-Fonds, doch ebenfalls in den Höhen des Juras. Von dort macht die Taschenuhr mit ewigem Kalender, Temperaturanzeige, Chronograph, Schlagwerk und Repetitionsschlagwerk ihren Weg nach Paris, wo LeCoultre und Piguet sie 1878 auf der Weltausstellung präsentieren.

Inzwischen hatte La Chaux-de-Fonds sich verändert. Seit 1857 verbindet eine der ersten Bahnlinien der Schweiz den Ort mit Le Locle. 1865 gründete sich die Uhrmacherschule, in den folgenden Jahrzehnten entwickelte das einstige Dorf die Infrastruktur einer Stadt. Auch die Uhrenproduktion fand nun nicht mehr in der Bauernstube statt: Die ansässigen Betriebe hatten ihre Fertigung zwischenzeitlich industrialisiert. „Zwischen 1850 und 1900 erleben La Chaux-de-Fonds und Le Locle die Hochzeit der Uhrenindustrie”, sagt Museumsführer Carrier. „Zenith in Le Locle zum Beispiel baut um 1900 über 1.000 Uhren pro Tag.”
Auch im 20. Jahrhundert hielt der Erfolg an. Eine Taschenuhr von Paul Ditisheim, La Chaux-de-Fonds, zeigt Fähigkeit zur Innovation: Sie arbeitet mit einer Chronometerhemmung und einer Guillaume-Unruh. Letztere entwickelte Charles-Edouard Guillaume (1861–1938) mittels einer Eisen-Nickel-Legierung. Sie dehnt sich bei steigender Umgebungstemperatur weniger aus als Stahl, der bisher für die Herstellung von Unruhen verwendet wird.
Quarzkrise – Neustart – Weltkulturerbe
In Grenchen, 55 Kilometer nordöstlich von La Chaux-de-Fonds, baute die Adolph Schild SA 1923 eine Uhr mit automatischem Aufzug – zum Tragen am Handgelenk. Keine Frage, dass diese Verbindung der Automatik nach dem Patent von John Harwood (1893–1965) mit der neuen Form der Armbanduhr ihren Platz im Internationalen Uhrenmuseum hat. Mit Uhren wie der Accutron von Jeanrichard erinnern an die Geschichte. Seit 2009 zählen La Chaux-de-Fonds und Le Locle zum Weltkulturerbe der Unesco, weil sie ein städtisches Erscheinungsbild mit der gewachsenen Uhrenindustrie verbinden.
Mit Uhren wie der Accutron von Bulova aus dem Jahr 1960 und der Délirium der ETA/Ebauches SA (1977) spiegelt die Sammlung den Wandel der Uhrenbranche. Um 1975 begann die sogenannte Quarzkrise, günstige Uhren aus Asien mit Quarzwerken drängten die – bis dahin meist mechanisch betriebenen und auch teureren – Schweizer Produkte zunehmend vom Markt. La Chaux-de-Fonds verlor im Verlauf der Krise 2.000 Arbeitsplätze, die Einwohnerzahl der Stadt ging um rund 1.000 Personen zurück. Davon ist heute im Internationalen Uhrenmuseum zum Glück nichts mehr zu spüren als die Erinnerung. Immerhin hat der Niedergang der Uhrenbranche eine Diversifizierung der Industrie mit sich gebracht, heute produziert man in La Chaux-de-Fonds und Le Locle Präzisionsmechanik, Mikromechanik und Elektronik. Aber auch wieder Uhren, und manche der Markennamen erinnern an die Geschichte.

Auf dem Weg aus der Ausstellung begegnet uns eine Frau, zierlich, um die Zwanzig. „Das ist Aurélie, sie ist Restauratorin und bringt alles wieder zum Laufen – von der Turmuhr bis zu den winzigen Damenührchen”, Wolfgang F. Carrier strahlt. „Sozusagen die wichtigste Person des Hauses.” Und so geht die Geschichte von La Chaux-de-Fonds weiter: Das Internationale Uhrenmuseum pflegt und bewahrt die Erinnerungen, und draußen vor seinem Höhleneingang knüpfen moderne Uhrenhersteller daran an. gb
Internationales Uhrenmuseum La Chaux-de-Fonds
Rue des Musée 29
CH-2300 La Chaux-de-Fonds
+41 (0) 32 967 68 61
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr