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Uhrmacher Hermann Goertz und seine Astronomische Kunstuhr

Hermann Goertz: Drehstuhl in der Uhrmacherwerkstatt
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Hermann Goertz war eine der schillerndsten Persönlichkeiten der historischen Glashütter Uhrenszene. Seine Astronomische Kunstuhr, eine Inspirationsquelle für die Schüler der örtlichen Uhrmacherschule und seit Jahrzehnten eine Hauptattraktion im Deutschen Uhrenmuseum Glashütte, wird derzeit fachmännisch und aufwändig überholt. Die Geschichte eines Präzisionsuhrmachers und seines Lebenswerks.
Die Astronomische Kunstuhr trägt ihren Namen zurecht: Das Gesamtzifferblatt zeigt auf acht Einzelzifferblättern eines der komplexesten Kalendarien und eine Vielzahl von astronomischen Funktionen an, insgesamt 20 Anzeigen. Dazu zählen neben der Zeit ein Ewiger Kalender mit Angabe von Datum, Wochentag, Monat, Jahr und Schaltjahr, die Äquation (Zeitgleichung) und die Gangdauer-Indikationen für das Geh- und Schlagwerk. Die astronomischen Funktionen präsentieren alles Wissenswerte über unser beliebtestes Nachtgestirn: das Mondalter, seinen Lauf und seine Phasen. Auch die Zeiten des Sonnenauf- und Sonnenuntergangs mit der mittleren Glashütter Ortszeit werden visualisiert. Hinzu kommt ein Sternhimmelblatt, das den aktuell sichtbaren Teil des Nachthimmels über der Stadt im Osterzgebirge sowie den realen Stand der Sonne zu den Sternbildern und im Tierkreis abbildet. Zusätzlich zu diesem Komplettprogramm, das trotz der Vielfalt übersichtlich bleibt, schlägt die Astronomische Kunstuhr die volle und Viertelstunde an. Uhrwerk und Zifferblatt bestehen aus über 1.756 Teilen, allein das Zifferblatt ist ein Kleinod aus 700 Komponenten.
Dieses Meisterwerk der Mechanik stammt vom genialen Uhrmacher Hermann Goertz, der sich über einen langen Zeitraum damit beschäftigte. Das Universal-Werk entstand zwischen 1892 und 1925 und wurde später von Alfred Helwig um eine dreidimensionale Mondphase erweitert. 1929 kaufte es der Freistaat Sachsen mit Mitteln aus dem Künstlerhilfe-Fonds für 15.000 Reichsmark und übergab es der Deutschen Uhrmacherschule Glashütte als Schenkung. Seitdem hat die Astronomische Kunstuhr ihren Platz im Foyer des ehemaligen Schulgebäudes, das seit dem Jahr 2008 das Deutsche Uhrenmuseum Glashütte beherbergt. Dort löst sie heute wie damals ehrfürchtiges Staunen aus."Alle Miet-Omnibus-Besitzer im Umkreis von 100 Kilometern wählen als Ziel für ihre Fahrten die Stadt Glashütte mit ihrer Goertzschen Kunstuhr, die tatsächlich eine Art Mittelpunkt für den Fremdenverkehr des Ost-Erzgebirges geworden ist", schrieb Helwig 1938 in der 'Uhrmacherkunst'. Übrigens: Auch der Bus der UHREN-MAGAZIN-Leserreise macht alljährlich an der Goertzschen Kunstuhr Station.Helwig, Studienrat und Schulleiter der Deutschen Uhrmacherschule Glashütte, widmete den Schwerkrafthemmungen von Hermann Goertz einen ausführlichen Aufsatz und beschrieb darin mit großem Respekt auch den ungewöhnlichen Werdegang und Lebensweg seines Freundes und späteren Kollegen, "dessen Wirken unsere Zeit überdauern wird".

Stationen in Preußen, Russland, der Ukraine und Glashütte

Hermann Goertz wurde am 2. April 1862 in Montauerweide in Westpreußen geboren. Früh verwaist, holten ihn mennonitische Verwandte in eine Siedlung von Wolgadeutschen in der Ukraine. Zunächst arbeitete er in einer Maschinenfabrik, bevor er über den Vater seiner zukünftigen Ehefrau mit der Uhrmacherei in Berührung kam und sofort begeistert war. Er erlernte das Handwerk von der Pike auf, legte eine glänzende Meisterprüfung ab und übernahm das Geschäft des Schwiegervaters in Odessa. Den wissbegierigen jungen Mann zog es in die Welt hinaus. Nach Russisch erlernte er die französische und englische Sprache und verfeinerte sein Wissen über Uhrwerkstechnik, unter anderem auf der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900.
Auf dem Rückweg machte er Halt in Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine und ein bedeutendes kulturelles, wissenschaftliches und wirtschaftliches Zentrum des Landes. Wie es der Zufall wollte, wurde er auf ein freigewordenes Uhrengeschäft aufmerksam und wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Rasch brachte er es zum Erfolg und lebte, wie Helwig es beschrieb, "wie ein Grandseigneur". Dazu habe der "Lebenskünstler" genau so eine Begabung wie "zur unglaublichen Genügsamkeit". Nebenbei arbeitete er als Vetragsuhrmacher der dortigen Universitätssternwarte. Auch seine Mußestunden widmete er der Astronomie und begann mit Konzeption und Bau der Kunstuhr. Die Russische Revolution zwang ihn im Jahr 1917 jedoch zur Flucht. Die "Strolche", wie er die Bolschewisten nannte, jagten ihn aus der Stadt, und er wurde von seiner Familie getrennt. Als einzigen Besitz konnte er zwei Pendeluhren, das Hauptwerk der Kunstuhr und einen wertvollen Brillanten, den er später in Golddollar einlösen konnte, mitnehmen. Er schlug sich mit dem Geld nach Kiew durch und gelangte über ein Sammellager für Rückkehrer nach Glashütte.
Schon einen Monat nach seiner Ankunft schrieb sich Goertz mit 56 Jahren als ältester Schüler aller Zeiten an der örtlichen Uhrmacherschule ein. Als Flüchtling gewährte man ihm einen Patz an der Schule, damit er seine Kunstuhr, die schnell das Interesse des Kollegiums auf sich zog, fertigstellen konnte. Als wichtiges Arbeitsmittel diente ihm das Zangenmikrometer, das noch von der Firma Moritz Grossmann stammte. In seiner Position genoss Goertz eine Art Sonderstatus. Sowohl Lehrer als auch Schüler zollten ihm und seinem Werk größten Respekt. Auch in der Vereinigung der Uhrmacherschule "Saxonia" war "Papa Goertz" beliebt, ebenso bei seinen Schachfreunden, die er am Wochenende zu Partien in sein Haus einlud. Zu jener Zeit entwickelte er verschiedene Hemmungssysteme, von denen er zwei 1920 zum Patent anmeldete und zum Verkauf anbot. Da er kein Auszubildender per se war, erhielt Goertz 1921 statt eines Abschlusszeugnisses eine Anerkennungsurkunde im Sinne der Grossmann-Stiftung für besondere Leistungen in der Praxis.

Dozent im hohen Lebensalter

Nach fünfjähriger Anstellung bei A. Lange & Söhne trat der mittlerweile 66-jährige im Mai 1928 erneut der Deutschen Uhrmacherschule bei, diesmal jedoch als Dozent. Unter anderem arbeitete er an einem Doppelmodell der von ihm entwickelten Schwerkrafthemmungen und tüftelte mit Helwig an immer neuen Uhrkonstruktionen, unter anderem in Bezug auf verbesserte Ölhaltung und Schmierung. Bis an sein Lebensende verband die beiden eine enge Freundschaft.
Nach Goertz’ Schlaganfall Anfang des Jahres 1937 war es Helwig, der ihn bis zu seinem Tod 1944 im Pflegeheim in Aue besuchte und seine Änderungswünsche für die Kunstuhr, wie die dreidimensionale Darstellung der Mondphase als sich drehende Kugel, aufnahm und umsetzte. Er führte auch die zweite offizielle Revision im Jahr 1956 durch.
Die Genialiät der Kunstuhr liegt nämlich auch in den großen Revisionsintervallen. Darauf hat Goertz bei der Konstruktion des Uhrwerkes großen Wert gelegt. Lager und Zapfen der Uhr hat er so gestaltet, dass sie eine lange Ölhaltung gewährleisteten. Die Laufflächen verfügen über eine große Härte und eine hervorragende Politur, wodurch Abnutzungserscheinungen minimiert werden. Zudem sind viele Räder und Hebel zerlegbar konstruiert, um eine einfache Reinigung und Neuvergoldung zu ermöglichen. Bisher wurde die Kunstuhr fünf Mal einer Revision unterzogen, das letzte Mal 2004. Die Uhr lief also seit mittlerweile 17 Jahren ohne größere Unterbrechung.
Zum Ende des Jahres 2021 stand eine erneute Revision an, die derzeit von den Uhrmachern des Deutschen Uhrenmuseums Glashütte durchgeführt und bis aufs kleinste Schräubchen vermessen und dokumentiert wird. Jedes Detail wird für zukünftige Revisionen festgehalten. Zu Beginn wurde das Uhrwerk mitsamt dem Zifferblatt von der Halterung im hölzernen Uhrenkasten gelöst. Nach intensivem Studium der Gesamtkonstruktion und der Funktionsabläufe werden alle Teile begutachtet und auf Abnutzungsspuren oder Beschädigungen geprüft und gegebenenfalls ersetzt. Entscheidend ist dabei immer, so sorgsam und originalgetreu wie möglich vorzugehen. Sämtliche Teile des Uhrwerkes werden gereinigt und gegebenenfalls konserviert. In weiteren Schritten werden Funktionsflächen, wie etwa die Laufflächen der Wellen, sorgsam poliert. Bei der abschließenden Remontage des Uhrwerkes kommt es darauf an, das Zusammenspiel der Teile perfekt aufeinander abzustimmen. Im Jahr 2022 wird die Astronomische Kunstuhr wieder in voller Schönheit ihre Anzeigen darstellen, pünktlich zum 160. Geburtstag ihres Erschaffers. sz