Wozu ein Kettengetriebe in einer mechanischen Uhr?

Kette und Schnecke – eine effektive uhrmacherische Komplikation

Es ist eine Gesetzmäßigkeit der Physik, dass die Antriebskraft der Aufzugsfeder im mechanischen Uhrwerk nach Vollaufzug hoch und gegen Ende der Gangdauer wesentlich geringer ist. Mit ablaufendem Federhaus kommt also weniger Energie an der Unruh an und sie verliert an Amplitude, was eine verminderte Präzision der Uhr zur Folge hat – so können Gangabweichungen entstehen. Bei einer Kraftübertragung über Kette und Schnecke hingegen bleibt die Antriebskraft über die gesamte Dauer der Gangautonomie vollkommen gleich. Insofern ist sie als eine Art der konstanten Kraftübertragung zu verstehen.

Der Antrieb über Kette und Schnecke ist eine Art konstanter Kraftübertragung
Der Antrieb über Kette und Schnecke ist eine Art konstanter Kraftübertragung

Der Antrieb über Kette und Schnecke zählt zu den effektivsten Komplikationen zur Erhöhung der Ganggenauigkeit einer mechanischen Uhr. Er fand sich ursprünglich vor allem in Marinechronometern. Ihn auf die winzigen Dimensionen einer Armbanduhr zu bringen, erfordert Fingerspitzengefühl und uhrmacherische Meisterschaft, weshalb er nur in ganz wenigen Armbanduhren zu finden ist.

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Der Tourbograph Perpetual "Pour le Mérite" aus dem Jahr 2017 von A. Lange & Söhne
Der Tourbograph Perpetual “Pour le Mérite” aus dem Jahr 2017 von A. Lange & Söhne

Zum Beispiel in Modellen namens “Pour le Mérite” von A. Lange & Söhne oder in der Academy Christophe Colomb Hurricane von Zenith. Hier ist die Kette 18 Zentimeter lang und besteht aus 585 Teilen. Die Ketten der “Pour-le-Mérite”-Modelle von A. Lange & Söhne bestehen aus 636 Einzelteilen, die im Querschnitt 0,6 mal 0,3 Millimeter messen.

Die Kette der "Pour le Mérite" zählt 636 Einzelteile
Die Kette der “Pour le Mérite” zählt 636 Einzelteile

Der Antrieb über Kette und Schnecke funktioniert wie ein stufenloses Getriebe, weshalb er den Kraftverlust der Aufzugsfeder ausgleicht und somit dafür sorgt, dass das Uhrwerk stets gleichmäßig mit Energie versorgt wird. Bei Vollaufzug ist die Kette komplett auf der Schnecke. Läuft das Federhaus ab, wickelt es dabei die Kette von der Schnecke ab und auf die Federhaustrommel auf. Damit dreht das Federhaus die Schnecke, die das stets konstante Drehmoment über ein Antriebsrad an das Räderwerk weitergibt.

Der Antrieb über Kette und Schnecke folgt dem Hebelprinzip. Die Schnecke hat die Form eines Kegels, um dessen Seitenwand sich eine spiralförmige Nut windet. Ist das Federhaus voll, zieht es mit ganzer Kraft, aber kürzerem Hebel an der Spitze des Kegels. Während die Aufzugsfeder an Kraft verliert, läuft die Kette zum breiteren Ende des Kegels hin ab. Mit wachsendem Radius wird der Hebel immer größer. Das Hebelprinzip besagt, dass mit großem Hebel aber kleiner Kraft ein großes Drehmoment ausgeübt werden kann. Wird also der Hebel mit abnehmender Kraft der Aufzugsfeder immer größer, bleibt das ans Räderwerk abgegebene Drehmoment konstant.

Einbau der Kette-Schnecke-Konstruktion bei A. Lange & Söhne
Einbau der Kette-Schnecke-Konstruktion bei A. Lange & Söhne

Aber so einfach, wie es sich anhört, ist es nicht. Die Berechnung der Kräfte ist eine sehr komplexe Angelegenheit, und die Kegelform der Schnecke muss speziell auf das Federhaus zugeschnitten sein. Ein weiterer Grund, weshalb man diese spezielle Art der konstanten Kraftübertragung in der Uhrmacherei vergleichsweise selten findet. MaRi

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Produkt: Chronos 3/2021
Chronos 3/2021
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Kommentare zu diesem Artikel

  1. Sehr geehrte Frau Richter,
    wenn man Ihren Artikel zum Kettengetriebe in einer mechanischen Uhr gelesen hat, gewinnt man den Eindruck, dass dieses etwas Neues in der Uhrmacherei sei und zu den effektivsten Komplikationen zur Erhöhung der Ganggenauigkeit einer mechanischen Uhr zählt. Das Wort „Kettengetriebe“ ist in der Uhrmacherei nicht gebräuchlich, sondern was Sie beschreiben ist ein Antrieb über/mit Kette und Schnecke. Weiter bemerken Sie: Er fand sich ursprünglich vor allem in Marinechronometern. Das ist sehr großzügig geurteilt ohne einen Rückblick in die Uhrenentwicklung zu wagen. Heute haben wir für den Antrieb ein bis vier gezahnte Federhäuser, meist hintereinander geschaltet, eine sogenannte S-Feder in den Federhäusern, ein sehr rutscharmes Verzahnungsprofil im Räderwerk und eine monometallische Unruh mit autokompensierter Nivarox-Spirale, sowie eine moderne Ankerhemmung. Damit schwingt eine Unruh isochron, d.h. große und kleine Schwingungen sind zeitgleich. Diese Komponenten richtig zusammengestellt garantieren heute eine sehr ordentliches Gangergebnis.

    Damals, bei der Erfindung der tragbaren Uhr, war man für den Antrieb, anstatt eines Gewichtes, in einer mechanischen auf eine aufgewundene Feder angewiesen. Die war aber in ihrer Kraftabgabe zwischen aufgezogen und abgelaufen, wie Sie auch richtig erwähnen, so unterschiedlich, dass ein Kraftausgleich her musste. In einer sehr frühen Schrift über Uhrwerke um 1477 finden wir von Frater Paulus Alemannus in „Horologia construendi artis instructio“ erste Zeichnungen einer Schnecke mit Darmseite für den Antrieb mit Kraftausgleich. Bis etwa 1660 war die Darmsaite ausschließlich die Verbindung zwischen Federhaus und Schnecke. Erst der Genfer Uhrmacher A. Gruet ersetzte um 1664 die Darmsaite durch eine vielgliedrige feine Kette ähnlich einer Fahrradkette. Letztere wurde bis etwa 1850, in England sogar bis 1880 für gewöhnliche Spindel-Taschenuhren mit Erfolg verwendet. Von der zweiten Version eines Kraftausgleiches, dem Stackfreed, verwendet von ca. 1540-1640 hauptsächlich in Süddeutschland (siehe Lit.: Dr. E. Geschwind; Stackfreed 1540-1640; Lit.: R. Meis; Die alte Uhr, Bd. 1, S.265ff und Lit.:R. Meis: Taschenuhren, S. 9f)) möchte ich hier noch gar nicht reden, geschweige denn von der schon im 19. Jahrhundert praktizierten Hintereinanderschaltung zwei oder mehrerer „halbstarker“ Federhäuser um den gleichen Zweck zu erreichen.

    In den Millionen von gefertigten Spindel-Taschenuhren in den vergangenen 350 Jahren von 1477 bis 1850 verwendete man mit wenigen Ausnahmen ausschließlich das System Darmsaite/Kette und Schnecke. Das verwendete Regulierorgan war anfangs eine Unrast/Waagbalken ohne Spirale in Verbindung mit einer Spindel-Hemmung sehr kraftabhängig, große und kleine Schwingungen waren nicht isochron. Als Huygens 1675 die Spirale am Regulierorgan erfand, wurden die Gangergebnisse deutlich besser. Auf eine Schnecke konnte man aber wegen der Verwendung der Spindel-Hemmung dennoch nicht verzichten. Und so blieb uns das System Spindel-Hemmung mit Antrieb über Kette und Schnecke bis ca. 1850 erhalten. Erst jetzt durch die Verwendung besserer Hemmungen, besseren Spiralen und besseren Regulierorganen konnte man auf Antriebe mit Kette und Schnecke verzichten (auf die Wirkungen der einzelnen Verbesserungen kann später eingegangen werden, siehe angeführte Literatur) und verwendete nun gezahnte Federhäuser für die gemeine Taschenuhr, die mit dieser neuen Technik vereinzelnd schon um 1800 parallel auftraten.

    Sie schreiben das der Antrieb über Kette und Schnecke: Er fand sich ursprünglich vor allem in Marinechronometern, ist historisch ein bisschen daneben. Nachdem man in den davor liegenden 350 Jahren bereits den Antrieb mit Darmsaite/Kette und Schnecke verwendet hatte, wurden erst kurz nach 1800 die kardanisch aufgehängten/gelagerten Schiffsuhren, also die Marinechronometer, auch mit Kette und Schnecke auf allen Schiffen üblich.

    Die Funktion, wie so ein Ketten- und Schneckenantrieb physikalisch funktioniert beschreiben Sie richtig und picken sich als Beispiel, den Pour le Mérite heraus, verschweigen aber, was eigentlich der Gag bei der Uhr von A. Lange & Söhne war und was sie anders als in einfachen Spindeltaschenuhren gemacht haben, nämlich: Sie konstruiert in die Schnecke ein Planeten-Getriebe hinein zu dem Zweck, dass das Räderwerk, wenn die Uhr aufgezogen wird, gleichsinnig weiter läuft, (siehe Lit.:. R. Meis; A. Lange & Söhne, Antrieb über Kette und Schnecke in einer Armbanduhr, Bd. II, S. 366f)), obwohl die Schnecke rückwärts drehend aufgezogen wird. Damit konnte verhindert werden, dass sich das Räderwerk beim Aufziehen der Uhr Rückwärts dreht und das Hemmrad mit dessen geölten Zahnflanken von hinten die Paletten des Ankers berührt und Öl abgibt, wo man es nicht haben möchte.

    In Ihrem Schlusssatz heben Sie besonders hervor: Die Berechnung der Kräfte ist eine sehr komplexe Angelegenheit und die Kegelform der Schnecke muss speziell auf das Federhaus zugeschnitten sein. Hier meinen Sie doch sicher: …auf die Kraft der Feder im Federhaus. Die Berechnung der Schnecke und Federkräfte ist sicherlich komplex, ließ sich aber mit technischen Mitteln umgehen. Schon sehr früh gab es Schnecken-Waagen und Schnecken-Schneidmaschinen mit denen die Antriebskraft der Feder empirisch ermittelt wurde und auf den Schneckendurch­messer bzw. die zu schneidende Schneckennuttiefe übertragen und das von Umgang zu Umgang der Schnecke. Somit war es möglich, beim Ersetzen einer schwachgewordenen oder gebrochenen Antriebsfeder die Schnecke für eine neue starke Feder nach- bzw. neuzuschneiden.

    Reinhard Meis, Art Director a.D., Autor und Journalist

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  2. Sehr geehrter Herr Meis,

    vielen Dank für Ihre ausführlichen Ergänzungen zum technisch sehr komplexen Thema „Antrieb über Kette und Schnecke“.

    Unsere Technikartikel sind in der Art von Lexikon-Einträgen extra so angelegt, dass möglichst kompakt (im UHREN-MAGAZIN ist es eine Seite) über ein Detail bezogen auf das Uhrwerk „aufgeklärt“ wird. So wurden beispielsweise Themen, die Sie auch anreißen, wie Federhaus, Aufzugsfeder, Isochronismus usw., schon betrachtet. Die Herausforderung liegt in der Kürze, was zugegebenermaßen gerade beim Thema Kette und Schnecke sehr ambitioniert ist.

    Da die Technik aber, wie Sie dankenswerterweise ausführlich nachreichen, heutzutage auch nicht mehr so verbreitet ist, wurden absichtlich aktuelle Beispiele für die Beschreibung gewählt und andererseits die historischen Betrachtungen – nicht zuletzt auf Grund der gewünschten Kürze – weggelassen. Da das Technik-Lexikon auch so angelegt ist, dass man in alphabetischer Reihenfolgen „durch das Uhrwerk geht“, wurden auch Vergleiche mit anderen Antrieben, wie etwa Mehrfederhaussysteme, weggelassen. Damit befasst sich dann eine andere Folge des Technik-Lexikons.

    Die Überschrift mit dem „Kettengetriebe“ wurde gewählt, um – durch den Gegensatz von Kettengetriebe im Alltag und feiner Mechanik einer Uhr – auch technisch weniger vorbereitete Leser neugierig zu machen.

    Wir werden einen Teil Ihrer Betrachtungen auch auf der Leserbriefseite des nächsten UHREN-MAGAZINs veröffentlichen.

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  3. Sehr schöner Artikel! Ich besitze eine ältere englische Taschenuhr, welche mit Kette und Schnecke angetrieben wird. Es ist schon etwas besonderes, sich so eine miniaturisierte „Fahrradkette“ anzuschauen mit solch winzigen Teilen. Wenn man bedenkt, wie früh man solche Präzisionsteile herstellte! Danke für diesen schönen Beitrag!

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  4. Guten Tag, Frau Richter, ich habe einen russ. Kirova Marinechronometer. Dort ist die Kette von der Schnecke abgesprungen, offensichtlich habe ich das Uhrwerk mit zuviel Schwung „angeworfen“. Wer kann mir die Kette wieder auf due Schnecke setzen ?

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  5. Hallo Herr Nöhle, am besten bringen Sie Ihre Uhr zu einem Uhrmacher in Ihrer Nähe. Viele Grüße

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  6. Interessanter Artikel.
    Uhrmacherberuf müsste geschützt werden, da viel Wissen notwendig ist.
    Leider sind mechanische Wanduhren einem starken Preisverfall unterworfen.

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