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6 Merkmale Glashütter Uhrwerke

© A. Lange & Söhne
Besitzen Sie eine Glashütter Uhr, vielleicht sogar mit Manufakturwerk? Und falls ja: Wissen Sie, was Sie beim Blick durch den Glasboden alles erleben können? Sicher, die konstruktiven und ästhetischen Besonderheiten ergeben auch ohne Fachkenntnisse ein schönes Gesamtbild. Aber wie so oft im Leben sind es gerade die Details, die den besonderen Reiz ausmachen. Wir zeigen die Merkmale sächsischer Werkarchitektur.

Merkmal #1 Glashütter Uhrwerke: Die Dreiviertelplatine

Ein „einfaches“ Glashütter Uhrwerk mit Handaufzug und ohne komplexe Funktionsaufbauten besitzt fast immer eine Dreiviertelplatine. Diese besonders stabile Konstruktion geht auf Ferdinand Adolph Lange zurück, der den Uhrenbau in Glashütte ab 1845 etablierte. Natürlich bedeckt die bodenseitige Deckplatte niemals exakt drei Viertel der Werkoberfläche, sondern meistens weniger. Ausschlaggebend für den Begriff ist vielmehr die Tatsache, dass die Platine, die eigentlich im Gegensatz zur Grundplatte des Werks eine große Brücke darstellt, das Federhaus und das gesamte Räderwerk bis hin zum Ankerrad überspannt. Nur die Unruh und der Anker liegen außerhalb. Unerheblich ist auch die Frage, ob der Aufzugsmechanismus einsehbar ist oder ebenfalls von der Dreiviertelplatine verdeckt wird.

Merkmal #2 Glashütter Uhrwerke: Glashütter Gesperr

Apropos Aufzugsmechanismus: Dieser verfügt in der sächsischen Uhrmacherei über ein Glashütter Gesperr. Dazu gehört eine Sperrklinke, die wie bei jeder mechanischen Armbanduhr am Sperrrad, dem größten sichtbaren Rad, anliegt. Letzteres sitzt auf dem Federhauskern. Beim Aufziehen über die Krone dreht sich das Sperrrad, wobei die Zähne der Sperrklinke über die Zähne des Sperrrads hinweggleiten. Dabei entsteht das bekannte Aufzugsgeräusch. Sobald die Drehbewegung in Aufzugsrichtung endet, würde sich die Zugfeder schlagartig entspannen, wäre da nicht die Sperrklinke. Sie greift ins Sperrrad ein und blockiert dieses.
Dieses Werk einer Union-Taschenuhr aus dem Jahr 1908 besitzt ein Glashütter Gesperr mit der typischen geschwungenen Sperrfeder © Union Glashütte
Die am Werkrand entlanglaufende Sperrfeder sorgt für Sicherheit, indem sie die Sperrklinke nach dem Aufziehen fest gegen das Sperrrad drückt. In der Ausführung dieser Feder liegt die wichtigste und eigentliche Besonderheit des Glashütter Gesperrs: Anders als beispielsweise in Schweizer Uhrwerken ist die Sperrfeder hier ein massives Bauteil und besitzt eine lange, geschwungene Form. Als optisch attraktives Konstruktionsmerkmal wird sie – vor allem bei Handaufzugskalibern ohne aufgesetzte Zusatzmechanismen – fast immer prominent in Szene gesetzt.
Glashütter Gesperr bei einer modernen Uhr von Tutima © Tutima
Alternativen zur Glashütter Bauart sind kürzere, unauffälliger geformte und weniger massive Sperrfedern. Manche sind an der Unterseite der Sperrklinke befestigt, andere werden mit dieser in einem einzigen Bauteil zusammengefasst.

Merkmal #3 Glashütter Uhrwerke: Glashütter Sonnenschliff

Im Aufzugsmechanismus kommt noch eine andere Besonderheit zum Einsatz: der Glashütter Sonnenschliff. Diese Verzierung wird meist auf das großflächige Sperrrad und oft auch auf das kleinere Kronrad aufgebracht.
Nomos Glashütte: Sonnenschliff © Nomos Glashütte
Nomos Glashütte: Sonnenschliff auf den Aufzugsrädern im Handaufzugswerk Alpha © NOMOS Glashuette
Glashütte Original: Kaliber 58-06 mit Sonnenschliff auf dem Aufzugsrad © Glashütte
Sie besteht aus feinen Strichen, die von innen nach außen verlaufen – und zwar im Gegensatz zum herkömmlichen Sonnenschliff in deutlich geschwungener statt gerader oder fast gerader Form. Die Striche sind entweder durchgezogen wie beim vorigen und folgenden Bild oder in mehrere konzentrische Bahnen unterteilt wie bei Glashütte Original weiter unten. In beiden Fällen wandern, wenn sich der Lichteinfall ändert, die Reflexionen auf der Oberfläche scheinbar im Kreis.
Ernst Kasiske: Werk einer Glashütter Taschenuhr, um 1895 © Archiv

Merkmal #4 Glashütter Uhrwerke: Verschraubte Goldchatons

Chatons sind ringförmige Metallfassungen für Lagersteine, in denen sich Zahnradwellen drehen. In Glashütte bestehen Chatons aus Gold und werden von zwei oder drei Schrauben gehalten, die wie die meisten anderen Schrauben im Werk gebläut sind. Sowohl die Farbkombination aus Gold, Blau und Rubinrot als auch die schiere Anzahl der Bauteile verleiht Glashütter Uhrwerken eine besonders hochwertige, dreidimensionale Optik. Und die Optik ist es auch, worum es bei diesem historischen Gestaltungsmerkmal geht. Denn die Rubinlager könnten wie bei Schweizer Uhrwerken problemlos direkt in die Platine eingepresst werden.
Goldchatons sind typisch für die Uhrwerke von A. Lange & Söhne und anderen Glashütter Marken © A. Lange & Söhne

Merkmal #5 Glashütter Uhrwerke: Gravierter Unruhkloben

Ebenfalls ein rein ästhetisches Glashütter Merkmal ist der gravierte Unruhkloben. Auf der Oberfläche dieses Bauteils, das Unruh, Spirale und Reguliervorrichtung hält, prangen meist florale Ornamente. Die Gravuren werden aufgrund ihrer komplexen Form von Hand ausgeführt und oftmals mit Gold ausgelegt. Im Zentrum des Klobens sitzt eine Halteschraube, die in Glashütte selbstverständlich gebläut wird.
Glashütte Original: Kaliber 58. Das Werk besitzt einen Glashütter Sonnenschliff in zwei Bahnen und golden ausgelegte Gravuren auf dem Unruhkloben © Glashütte Original

Merkmal #6 Glashütter Uhrwerke: Schwanenhals-Feinregulierung

Auf dem gravierten Unruhkloben sitzt bei einem typischen Glashütter Werk die Schwanenhals-Feinregulierung. Diese optisch wie technisch ansprechende Baugruppe besteht aus einem Rücker mit langem Zeiger, einer Regulierschraube, die diesen Zeiger bewegt, und einer langen, geschwungenen Gegenfeder, die durch Gegendruck ein besonders feines Verstellen erlaubt. Je nach Marke und Modell dient die Schwanenhals-Feinregulierung entweder zur Feinstellung des Gangs oder zur Regulierung des Abfalls. Letzterer ist der unerwünschte, aber im Grunde stets vorhandene Strecken- und Zeitunterschied zwischen dem Hin- und dem Herschwingen der Unruh.Glashütte Original verwendet mit seiner Duplex-Schwanenhalsfeder in manchen Modellen sogar beide Systeme gleichzeitig; die zwei Regulierorgane für Gang und Abfall liegen symmetrisch angeordnet links und rechts neben der Unruh.
Montage des Kalibers 65 von Glashütte Original: Der Uhrmacher setzt die Unruhbrücke mit Duplex-Schwanenhalsfeder auf © René Gaens
Eine Sonderform im wahrsten Sinne des Wortes ist die Spechthalsregulierung von Mühle-Glashütte: Hier besitzt die Feder eine weniger ausladende Grundform und greift zudem gestuft in eine Nut im Rückerzeiger ein, was zusätzliche Sicherheit bei Stößen gibt.
Mühle-Glashütte: Spechthalsregulierung © Mühle-Glashütte
Waschechte Glashütter Uhrenmanufakturen sind: 
  • A. Lange & Söhne
  • Glashütte Original
  • Moritz Grossmann
  • Nomos Glashütte
  • Tutima Glashütte
Weitere Glashütter Uhrenmarken, die zugelieferte Kaliber modifizieren, um über 50 Prozent der Wertschöpfung am Werk in Glashütte zu leisten:
  • Bruno Söhnle
  • Mühle-Glashütte
  • Union Glashütte
  • Wempe Glashütte i/SA
Union Glashütte: Kaliber UNG-27.02 auf Basis des Valjoux 7753 im Noramis Chronographen. Um der Glashütte-Regel zu entsprechen, wird das Uhrwerk vor Ort modifiziert, veredelt und aus Einzelteilen zusammengebaut © Union Glashütte
Nomos Glashütte: Manufakturkaliber DUW 5101 in der Ahoi Atlantik mit Glashütter Gesperr, Streifenschliff und zweibahnigem Sonnenschliff © Nomos Glashütte
Moritz Grossmann: Manufakturkaliber 100.2 in der Benu: Zweidrittelplatine, gestufter und gravierter Unruhkloben, dreibahniger Sonnenschliff © Moritz Grossmann
In Glashütte und der ganzen WeltÜber die lokalen Merkmale hinaus vereinen Glashütter Werke selbstverständlich auch Eigenschaften, die überall in der Welt als ästhetisch und hochwertig gelten. Dazu gehören die Schraubenunruh, anglierte und polierte Kanten, Textgravuren – mit oder ohne goldene Füllung – sowie der bekannte Streifenschliff aus geraden Bahnen mit schräger Satinierung. Letzterer wird in Sachsen gern als Glashütter Streifenschliff bezeichnet, ist aber von den überall gebräuchlichen Genfer Streifen nicht zu unterscheiden. Vor allem die Kombination dieser allgemeingültigen Elemente mit den Glashütter Spezialitäten macht den besonderen Reiz des sächsischen Uhrenbaus aus. Es ist also keine Frage, was alles rein darf ins Glashütter Werk, sondern was in jedem Fall drin sein sollte. Seit Februar 2022 sind Uhren aus der sächsischen Kleinstadt im Osterzgebirge mit der Herkunftsangabe „Glashütte“ geschützt. Mit der Verordnung erlangt der Schutz der geographischen Herkunftsbezeichnung „Glashütte“ für Uhren einen Sonderstatus sowohl gegenüber dem EU-Recht als auch gegenüber dem deutschen Markengesetz. Mehr über die neue Verordnung erfahren Sie hier.