Obwohl das sächsische Uhrmacherstädtchen Glashütte 40 Jahre lang sozialistisch regiert wurde, hat sich ausgerechnet hier ein Familienunternehmen etabliert, das auf eine mehr als 150-jährige Kontinuität zurückblickt: Mühle-Glashütte. Die Geschichte beginnt 1869, noch vor der Geburt des deutschen Kaiserreichs: In diesem Jahr etabliert der beim Uhrenfabrikanten Moritz Großmann, dem Gründer der Deutschen Uhrmacherschule, ausgebildete Robert Mühle (1841–1921) eine feinmechanische Werkstatt. Sie fertigt noch keine Uhren, beliefert die ortsansässige Uhrenindustrie sowie die Uhrmacherschule aber mit hochpräzisen Messinstrumenten. Mit dem Aufkommen des Automobils kommen später auch Autouhren und Tachometer hinzu.

Die Belegschaft der Firma R. Mühle & Sohn um Robert Mühle (vorn Mitte), Max Mühle (vorn links) und Alfred Mühle (ganz rechts), 1916
Mühle-GlashütteFakt #1 über Mühle-Glashütte: Unternehmen in Familienbesitz
Nach dem Eintritt der Söhne Otto Paul Mühle, Arthur Max Mühle und Alfred Otto Mühle firmiert das Unternehmen ab 1905 als „R. Mühle & Sohn“. In den frühen 1920er-Jahren begann der Betrieb, Automobilhersteller wie Horch, Maybach und andere mit Autouhren, Tachometern, Drehzahlmessern und anderen Messgeräten zu beliefern. In den 1930er-Jahren weitete man das Angebot um Autouhren für Lastkraftwagen, Nutzfahrzeuge und Motorräder aus. Roberts Söhne erleben die unmittelbar nach Kriegsende 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführte Enteignung nicht mehr mit.

R. Mühle & Sohn: Werbung von 1895
Mühle-GlashütteIm neu gegründeten Volkseigenen Betrieb wird jedoch bald Hans Mühle (1903–1970), ein Enkel des Gründers, als Betriebsleiter eingesetzt. Er gründet nebenher das Familienunternehmen als „Ingenieur Hans Mühle, Feinmechanik, Glashütte“ neu und produziert unter anderem Laufwerke für die Foto- und Kinoindustrie oder Zeigerwerke für Druck- und Temperaturmessgeräte. Dabei kommt ihm zugute, dass ab Mitte der 1960er Jahre in der DDR kleine, von privaten Eigentümern geführte Betriebe wieder vermehrt geduldet wurden. Mit dem Amtsantritt von Erich Honecker 1971 geht diese wirtschaftliche Tauwetterphase schnell zu Ende: Das bekommt auch Mühle zu spüren, als das Unternehmen 1972 verstaatlicht und in den VEB Glashütter Uhrenbetriebe (GUB) eingegliedert wird. Die entsprechende Abwicklung übernimmt bereits Hans-Jürgen Mühle (geb. 1941), der seinem 1970 verstorbenen Vater nachgefolgt ist. Im VEB ist er für den weltweiten Verkauf von Schiffsuhren und Marinechronometern sowie den Vertrieb von Armbanduhren in Osteuropa verantwortlich.

Nach der Enteignung: Uhrenproduktion in Glashütte um 1950
Mühle-GlashütteNach der Wende gründete er 1994 die Mühle-Glashütte GmbH Nautische Instrumente und Feinmechanik. Zu Beginn standen die Entwicklung und Produktion von Schiffsuhren und Marinechronometern im Vordergrund, ein Geschäftsfeld, dass bis heute weitergepflegt wird. Seit 1996 fertigt Mühle auch Armbanduhren. Sein Sohn Thilo Mühle (geb. 1968) tritt im Jahr 2000 ins Unternehmen ein und übernimmt 2007 die alleinige Geschäftsführung. Er kann 2019 ein Doppeljubiläum feiern: 150 Jahre Familienunternehmen und 25 Jahre Neugründung. Als Jubiläumsmodell stellt er die Robert Mühle Mondphase vor, eine auf 150 Exemplare limitierte Sonderedition, die in Edelstahl, Rotgold und Platin angeboten wird. Mittlerweile ist die sechste Generation im Unternehmen: Im Februar 2024 stellte Thilo Mühle seine Kinder Fanny und Dustin (Bild ganz oben) als neue Mitglieder der nunmehrigen Dreier-Geschäftsführung vor.

Mühle-Glashütte Herren-Sport-Taucheruhr von 1996
Mühle-GlashütteFakt #2 über Mühle-Glashütte: Wertschöpfung in Glashütte
Mühle stattet seine Armbanduhren von Anfang an mit Werken Schweizer Provenienz aus. Daher muss die Marke, wie die anderen Glashütter Uhrenhersteller auch, die sogenannte Glashütte-Regel beachten, laut der 50 Prozent der Wertschöpfung am Werk in Glashütte zu erfolgen haben. Im Februar 2022 wird diese Regel zum Schutz der Herkunftsbezeichnung Glashütte in die Form einer offiziellen Verordnung gegossen und erhält damit quasi Gesetzesrang. Mühle baut den Eigenanteil an der Werkefertigung im Laufe der Jahre immer weiter aus. Abgesehen davon, dass alle zum Einsatz kommenden Basiswerke in Glashütte komplett demontiert, geprüft und modifiziert werden, fertigt Mühle schon in den Neunzigern einen eigenen Rotor. Er besteht aus einem gravierten Mittelsegment und einem Schwermetallreif, den vergoldete Nieten fixieren.

Uhrenproduktion bei Mühle-Glashütte, 2020er-Jahre
Mühle-GlashütteDem Rotor folgt 2003 eine in-house entwickelte Feinregulierung, die Mühle in Anlehnung an den Namen der historisch bekannten Schwanenhals-Feinregulierung „Spechthals-Regulierung“ tauft. Sie besteht aus einem Rückerzeiger mit einer Regulierschraube und einer Gegendruckfeder, die in eine halbkreisförmige Vertiefung der Rückerzeigers eingreift. Damit wird der Rücker gegen die Regulierschraube gedrückt und zugleich verhindert, dass er bei Stößen nach oben entweichen kann – mehr Sicherheit und Präzision sind die Folge. Die Spechthals-Regulierung kommt heute bei allen Werken zum Einsatz, die Mühle selbst entwickelt hat, dazu dient sie aber auch der Verbesserung ausgewählter zugelieferter Basiskaliber.

Mühle Spechhals-Feinregulierung
Mühle-GlashütteFakt #3 über Mühle-Glashütte: Eigene Werke und Module
2011 präsentiert die Marke mit dem Handaufzugskaliber MU 9411 das erste selbstkonstruierte Werk. Mühle fertigt unter anderem die Dreiviertelplatine – seit jeher ein Erkennungsmerkmal Glashütter Uhren – auf eigenen CNC-Maschinen, andere Teile werden exklusiv im Auftrag geliefert. Die Teutonia III Handaufzug ist die erste Uhr mit diesem Kaliber. 2014 folgt die Manufakturlinie R. Mühle & Söhn: Sie besteht aus Uhren mit selbst konstruierten Komplikationen wie der Robert Mühle Auf/Ab von 2014, der Robert Mühle Kleine Sekunde oder der Robert Mühle Mondphase von 2019. Diese Uhren beinhalten eine von Mühle selbst gefertigte Dreifünftelplatine mit separatem Ankerradkloben, einen handgravierten Unruhkloben und Goldchatons und enthalten nur noch wenige Teile von Schweizer Basiskalibern.

Mühle-Kaliber MU9424-GR: Chronographenwerk mit Gangreserveanzeige
Mühle-GlashütteIn den letzten Jahren hat Mühle verschiedene Modelle vorgestellt, bei denen in Schweizer Basiswerke, die bereits mit Mühle-typischen Verbesserungen wie Spechthalsregulierung und eigenem Rotor versehen sind, in-house konstruierte Module integriert werden. Eines der jüngsten Beispiele ist das Kaliber MU9424-GD: Hier hat Mühle auf Basis des Sellita-Automatikkalibers SW200-1 ein Großdatumsmodul entwickelt, das auf der Sechs-Uhr-Position des Zifferblatts sichtbar wird. Es findet sich unter anderem in der Teutonia IV Großdatum. Anfang 2025 folgte mit dem MU9424-GR ein Chronographenwerk auf Basis des Sellita SW 500 mit einer von Mühle konstruierten Gangreserveanzeige. Die erste Uhr mit diesem Werk ist der Sportivo Power Chronograph First Edition, limitiert auf 200 Stück. Er ist das neueste Modell der 2024 eingeführten sportlich-robusten Linie Sportivo, die widerstandsfähige Gehäuse mit leistungsstarken Werken und einem Schuss Farbe verbindet.

Mühle-Glashütte: Teutonia IV Großdatum Edition 1994
Mühle-GlashütteFakt #4 über Mühle-Glashütte: Der S.A.R. Rescue-Timer
Zu den wichtigen Modelllinien gehören neben Sportivo und der bereits erwähnten Teutonia auch die für Einsteiger gedachte Serie 29er sowie die Einsatzuhren. Unter ihnen sticht der S.A.R. Rescue-Timer heraus. Er steht seit 2002 für die Zusammenarbeit zwischen Mühle und der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. In sein Design flossen viele Anregungen ein, die Mühle von den Kapitänen der Rettungskreuzer erhielt: Neben einer extremen Wasserdichtheit von 1000 Metern zeichnet sich der S.A.R. Rescue-Timer durch ein extra abgerundetes Stahlgehäuse mit Kautschuklünette, ein vier Millimeter starkes Saphirglas und die bei vier Uhr platzierte Krone aus: alles Eigenschaften, die die Uhr äußerst robust machen und zugleich mögliche Verletzungen bei der Bergung aus Wasser oder Rettungsboot verhindern.

Mühle-Glashütte: S.A.R. Rescue-Timer mit blauem Zifferblatt und Stahlband
Mühle-GlashütteFakt #5 über Mühle-Glashütte: Nautische Instrumente
Seit der Neugründung 1994 stellt Mühle-Glashütte auch Marinechronometer und Schiffsuhrenanlagen für die professionelle Schifffahrt her. Bei den Yacht- und Marinechronometern kommen Quarzwerke zum Einsatz. Diese Uhren werden nicht nur für Schiffe, sondern auch für den heimischen Schreibtisch gekauft. Was professionelle nautische Instrumente angeht, stattet Mühle Kreuzfahrtschiffe wie die Aida-Flotte sowie Luxusyachten auch mit automatisierten Schiffsuhrensystemen aus. Die Mühle Hauptuhr TCS-1 (Time Control System) ist die Schaltzentrale automatisierter Uhrenanlagen und liefert das Zeitprotokoll für eine unbegrenzte Anzahl von Nebenuhren und alle integrierten Automatisierungssysteme.

Mühle-Glashütte: Quarz-Marinechronmeter
Mühle-Glashütte